Spätestens seit 2021 ist klar: Lieferketten sind das Rückgrat von Produktion und Handel – und gleichzeitig ein empfindliches Nervensystem. Fast jedes Großhandels- und Herstellerunternehmen war in diesem Jahr von Lieferkettenbeeinträchtigungen betroffen. Pandemie, geopolitische Spannungen, Rohstoffengpässe und Transportprobleme haben gezeigt, wie fragil globale Netzwerke sein können.
Der Reflex vieler Unternehmen war schnell: neue Plattformen, Lieferantenportale und Ad-hoc-Digitalisierungsmaßnahmen. Doch viele dieser Initiativen entpuppen sich inzwischen als digitale Insellösungen – teuer, intransparent und wenig skalierbar. Echte Lieferketten-Digitalisierung erfordert einen grundlegenden Wandel: Weg von proprietären Systemen, hin zu interoperablen, standardisierten Prozessen, die alle Akteure integrieren.
Warum jetzt handeln?
Die Digitalisierung von Lieferketten ist kein Zukunftsthema mehr. Sie ist in der Gegenwart angekommen – mit direktem Einfluss auf Produktionssicherheit, Kundenzufriedenheit und Wettbewerbsfähigkeit. Wer zu lange wartet, riskiert mehr als nur Verspätungen.
- Kritische Geschäftsprozesse wie Beschaffung, Lagerhaltung und Auftragsabwicklung hängen direkt von funktionierenden Lieferketten ab.
- Frust durch ineffiziente Lösungen ist weit verbreitet – gerade wenn Tools nicht miteinander sprechen oder wichtige Daten fehlen.
- Relevanz für Hersteller und Händler ist hoch, da selbst kleine Verzögerungen massive Auswirkungen auf Margen und Lieferzeiten haben.
- Optimierungsbedarf ist dauerhaft: Lieferketten sind dynamisch – Prozesse und Systeme müssen mitwachsen.
Was echte Lieferketten-Digitalisierung ausmacht
Die bloße Einführung digitaler Tools reicht nicht. Lieferketten-Digitalisierung bedeutet, Prozesse ganzheitlich zu analysieren, neu zu denken und entlang der gesamten Wertschöpfungskette durchgängig zu vernetzen.
1. Interoperabilität statt Datensilos
Die größte Schwäche vieler derzeitiger Systeme ist mangelnde Kommunikation. Lieferanten nutzen Excel, Logistikpartner senden E-Mails, der Einkauf nutzt ERP, die Qualitätssicherung PDFs – Datenfluss? Fehlanzeige. Ziel muss es sein, Systeme zu vernetzen, Schnittstellen zu standardisieren und relevante Daten automatisch auszutauschen.
2. Standardisierung von Prozessen und Formaten
Der Erfolg digitaler Lieferketten hängt maßgeblich davon ab, einheitliche Datenformate und Prozesse zu etablieren. Ob EDI (Electronic Data Interchange), ZUGFeRD, GS1-Standards oder API-basierte Plattformintegration – ohne Standards bleibt jede Digitalisierung Stückwerk.
3. Echtzeitdaten als Entscheidungsgrundlage
Digitale Lieferketten ermöglichen transparente Echtzeitdaten: Lagerbestände, Lieferzeiten, Qualität, Transportstatus, CO₂-Fußabdruck. Diese Informationen sind wertvoll – aber nur, wenn sie auch in zentralen Systemen verfügbar sind, z. B. im ERP oder SCM-System.
4. End-to-End-Transparenz
Nur wenn alle Beteiligten – vom Rohstofflieferanten über den Produzenten bis zum Händler – auf eine gemeinsame Datenbasis zugreifen, entsteht echte Transparenz. Das ermöglicht nicht nur schnellere Reaktionen auf Störungen, sondern auch die Grundlage für vorausschauende Planung (Predictive Analytics).
Typische Fehler bei der Digitalisierung der Supply Chain
Viele Unternehmen scheitern nicht an der Technik, sondern an der Herangehensweise. Hier sind die häufigsten Fallstricke:
- Einführung isolierter Tools ohne Anbindung an bestehende Systeme
- Fehlende Einbindung externer Partner (Lieferanten, Spediteure, Kunden)
- Unklare Datenstrategie – wer liefert welche Daten, in welchem Format, wann?
- Zu starke Individualisierung, die spätere Skalierung oder Migration verhindert
Digitale Lieferketten sind kein IT-Projekt, sondern ein strategischer Umbau. Nur wenn Prozesse, Menschen und Systeme gemeinsam betrachtet werden, kann Digitalisierung erfolgreich sein.
Wie Hersteller und Händler die Digitalisierung richtig angehen
1. Analyse & Mapping der bestehenden Lieferkettenprozesse
Wie laufen Prozesse heute ab? Wo sind Medienbrüche? Welche Systeme sind im Einsatz? Eine gründliche Analyse bildet die Basis für alle weiteren Schritte.
2. Definition klarer Ziele
Will ich schneller liefern? Besser planen? CO₂-Emissionen senken? Erst mit konkreten Zielen lässt sich die richtige Digitalstrategie entwickeln.
3. Auswahl geeigneter Tools und Plattformen
Setze auf offene Standards und Lösungen mit breiter Integrationsfähigkeit. Cloud-basierte Plattformen mit API-Schnittstellen sind heute oft flexibler als monolithische Eigenentwicklungen.
4. Einbindung aller Beteiligten
Digitalisierung ist kein Solo-Projekt. Lieferanten, Kunden, Logistiker und interne Fachbereiche müssen einbezogen werden – am besten frühzeitig.
5. Schrittweises Rollout mit Quick Wins
Starte mit überschaubaren Projekten (z. B. automatisierter Wareneingang oder digitales Lieferavis) und skaliere dann schrittweise. Schnelle Erfolge schaffen Akzeptanz im Unternehmen.
Use Case: Digitale Lieferkette im Großhandel
Ein mittelständischer Großhändler aus dem Maschinenbau digitalisierte seine Beschaffung: Statt PDF-Bestellungen per E-Mail nutzt das Unternehmen nun eine standardisierte EDI-Lösung mit direkter Anbindung ans ERP-System. Ergebnis:
- 80 % weniger manueller Aufwand bei der Bestellabwicklung
- Echtzeit-Transparenz über Liefertermine und Teillieferungen
- Reduzierung von Fehlern bei Eingaben und Rückfragen
Der nächste Schritt ist bereits geplant: die Integration von Qualitätsdaten der Lieferanten und eine CO₂-Bilanzierung der Transportwege.
Fazit: Digitale Lieferketten brauchen Standardisierung, keine Flickenteppiche
Die Digitalisierung der Lieferkette ist kein Trend, sondern eine strategische Notwendigkeit. Wer sich auf Insellösungen oder halbfertige Portale verlässt, verstärkt bestehende Probleme. Der Schlüssel liegt in Interoperabilität, Standardisierung und Vernetzung.
Hersteller und Händler, die heute ihre Supply Chain ganzheitlich denken und digital neu aufstellen, verschaffen sich nicht nur einen Wettbewerbsvorteil – sie machen ihr Unternehmen auch krisenfester, nachhaltiger und zukunftssicher.
Dr. Jens Bölscher ist studierter Betriebswirt mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik. Er promovierte im Jahr 2000 zum Thema Electronic Commerce in der Versicherungswirtschaft und hat zahlreiche Bücher und Fachbeiträge veröffentlicht. Er war langjährig in verschiedenen Positionen tätig, zuletzt 14 Jahre als Geschäftsführer. Seine besonderen Interessen sind Innovationen im IT Bereich.
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